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  • Livio Dörig

Zwischenbilanz im Meisterschaftsrennen

Aktualisiert: 20. Okt. 2021

Ein Viertel der Saison 2021/2022 ist in der Schweizer Super League bereits wieder gespielt und die Kräfteverhältnisse sind erstmals einordbar. Bolzplazz beleuchtet das Meisterschaftsduell der beiden Ligadominatoren aus Bern und Basel und zeigt auf, welche beiden Aussenseiter allenfalls auch noch ein Wörtchen im Kampf um die vorderen Plätze mitzureden haben.


FC Basel (19 Punkte nach neun Spielen)

© Freshfocus

Folgende Gründe sprechen für eine Basler Meisterschaft:


Optimale Altersstruktur


Der Kader der Rheinstädter ist in puncto Alter der Spieler sehr ausgewogen und durchdacht besetzt. Auf der Seite der Routiniers befinden sich namhafte Spieler wie Torhüter Heinz Linder (31), Ex-Bundesliga-Legionär Michael Lang (30), die beiden Mittelfeldstrategen und -abräumer Taulant Xhaka (30) und Fabian Frei (32) sowie Captain Valentin Stocker (32). Zusammengerechnet bringen diese Akteure 141 Spiele in ihrem Nationaldress und die unglaubliche Zahl von 1'264 Matches in der Super League mit – Erfahrung pur! Auf der Seite der jungen Wilden stehen mit Andy Pelmard (21), Tomàs Tavares (20), Wouter Burger (20), Darian Males (20), Matias Palacios (19), Joelson Fernandes (18), Dan Ndoye (20) und Sebastiano Esposito (19) einige hochklassige, unbekümmerte Talente mit enorm viel offensiver Power, technischer Klasse und viel Coolness unter Vertrag. Eine bestmögliche Mischung, die den Verantwortlichen der Basler für ihr Team der Saison 2021/2022 gelungen ist. Dies zeigt sich auch im Durchschnittalter des gesamten Kaders von gerademal 23,7 Jahren. Vor allem in der entscheidenden Phase im Kampf um Platz 1 könnte die ausgewogene Altersstruktur ein entscheidender Vorteil werden.


Arthur Cabral


Selten stehen einzelne Spieler so sehr für den Erfolg einer Mannschaft wie Arthur Cabral bislang in dieser Spielzeit. Der Brasilianer ist so etwas wie eine Wunderwaffe. Mit wettbewerbsübergreifend 20 Toren und sechs Assists in 17 Spielen ist er unangefochtener Leistungsträger und Punktegarant. Die 1,86 m-Kante bricht momentan Rekorde am laufenden Band und ist zweifelsohne der individuell beste Spieler der Schweizer Liga. Der Lohn für die überragenden Auftritte des kompletten Mittelstürmers war die erstmalige Nomination in die Seleção. Stand jetzt schiesst Cabral durchschnittlich alle 73 Minuten einen Treffer für Rot-Blau. Kann er diese Quote auch nur annährend so weiterziehen und bleibt er verletzungsfrei, haben die Basler regelrecht einen "cheat code" in ihren Reihen.


Welche Punkte sprechen gegen eine Basler Meisterschaft?


Dreifachbelastung und Reisestrapazen


Die Bebbi sind nicht nur in der Meisterschaft gefordert, sondern auch im Schweizer Cup und in der neuen UEFA Conference League. Im Cup steht man im Achtelfinale und trifft dort auf den Erstligisten Étoile Carouge und gehört natürlich zu den Favoriten im Kampf um den silbernen Pokal. Auf internationalem Parkett misst man sich mit Qarabag FK, Kairat Almaty und Omonia Nikosia in einer Gruppe, in der das Weiterkommen fast schon Pflicht ist. Doch zu den vielen Partien gesellen sich auch noch weite Reisen nach Kasachstan und Aserbaidschan, die Strapazen sind also immens. Der FC Basel hat zwar einen grossen Kader, trotzdem aber könnten Dreifachbelastung und lange Reisen ihren mentalen und körperlichen Tribut fordern. Gut möglich, dass in der heissen Phase des Meisterrennens die fehlenden Körner bemerkbar werden.

Verlorengegangene Winnermentalität


Acht Meistertitel in Serie feierte der FCB von 2010 bis 2017. Der FCB war national das Mass aller Dinge, prägte eine Ära und der Klub schien unbesiegbar. Auch Neuzugängen wurde das Sieger-Gen unmittelbar eingeimpft. In der Saison 2017/2018 wendete sich das Blatt und der Konkurrent aus Bern nahm die rot-blaue Festung ein und hängte in den folgenden Saisons gleich noch drei weitere Meistertitel hintenan. Die Erfolgswelle der Basler wurde von YB jäh gestoppt und so ist von der ehemaligen Heusler/Heitz’schen Winnermentalität nicht mehr viel übriggeblieben. Zwar stehen mit Lang, Xhaka, Frei und Stocker noch vier prägende Spieler der goldenen Ära im Kader, doch vom einstigen Selbstbewusstsein à la FC Bayern München hat der ganze Klub einiges eingebüsst. Die meisten Akteure sind nicht mehr ans Gewinnen von Titeln gewöhnt, das Sieger-Gen muss sich diese neue FCB-Generation erst noch erarbeiten.



BSC Young Boys (18 Punkte nach neun Spielen – ein Nachholspiel)

© keystone

Folgende Gründe sprechen dafür, dass YB den Pokal zum fünften Mal hintereinander in die Höhe recken darf:


Herausragendes Herzstück


David Wagner lässt sein Team meistens in der 4-4-2-Grundformation aufs Feld. Dabei kommt den beiden zentralen Mittelfeldspielern eine enorme Bedeutung zu. Als Bindeglied zwischen Abwehr und Angriff fungieren die beiden Achter als Herzstück des Berner Kollektivs und müssen dabei eine gute Balance finden. Ihre Rollen wechseln je nach Situation zwischen abräumendem Sechser bis zum kreativen «Zehner», dies mitunter binnen Sekunden. Mit Michel Aebischer, Christopher Martins Pereira, Sandro Lauper und Vincent Sierro hat der Trainer im Zentrum die Qual der Wahl. Die beiden erstgenannten haben in puncto Einsatzminuten aktuell die Nase vorn. Dazu kommen die hochtalentierten Schweizer U21-Nationalspieler Fabian Rieder und Alexandre Jankewitz, die ebenfalls berechtigte Ansprüche auf Spielzeit anmelden. Es gab in der Super League wohl kaum je ein qualitativ und quantitativ besser besetztes zentrales Mittelfeld, als jenes der Young Boys in dieser Saison. Das Prunkstück der Berner ist dieser quasi von allein laufende Motor, das Berner Herzstück könnte ein Schlüsselelement im Kampf um den Titel werden.

Diversität im Angriff


Anstatt einen einzelnen überragenden Topscorer haben die Young Boys gleich eine Vielzahl von treffsicheren Spielern in ihren Reihen. US-Nationalstürmer Jordan Siebatcheu, Neuzugang Wilfried Kanga, Alleskönner Christian Fassnacht und Wirbelwind Meschack Elia haben wettbewerbsübergreifend alle schon fünf oder mehr Treffer erzielt. Auch bei den direkten Torvorlagen haben gleich vier Akteure fünf oder mehr Assists auf dem Konto. Die 23 Ligatore in gerade einmal acht Partien (Schnitt von 2,9 eigenen Treffern pro Spiel) sind demzufolge nicht grösstenteils einem einzelnen Berner zuzuschreiben, sondern der gesamten Offensivabteilung. Dadurch sind die Gelb-Schwarzen für den Gegner kaum auszurechnen, denn eine ganze Reihe von Angreifern stellt ständige Gefahr dar. Zur Unberechenbarkeit kommt hinzu, dass allfällige Verletzungen nicht so schwer ins Gewicht fallen dank der Verteilung der Scoringlast auf viele verschiedene Schultern. Braucht ein Akteur eine Pause oder muss gezwungenermassen Zuschauen, springt ein anderer in die Bresche und das Netz der gegnerischen Mannschaft zappelt gleichwohl. Die Vielfältigkeit im Offensivbereich ist eine brutale Waffe der Bundesstädter und Ausdruck ihrer kollektiven Stärke.

Aber auch die Berner müssen sich gegen Widrigkeiten wehren:


Absenzen von Nsame und Lustenberger


Im April diesen Jahres riss sich YB-Captain Fabian Lustenberger die Achillessehne. Einen Monat später passierte genau dasselbe auch Jean-Pierre Nsame. Ein Schock für die Berner, denn somit fielen der Abwehrchef und der Torschützenkönig gleichzeitig für lange Zeit aus. Dass sich YB die gewichtigen Ausfälle bislang kaum anmerken lässt, spricht für die Qualität der Mannschaft. Trotzdem dürften gerade in kommenden englischen Wochen oder in knappen Duellen die Abgeklärtheit Lustenbergers und die Kaltschnäuzigkeit Nsames vermisst werden. Beide Spieler befinden sich auf einem guten Weg zurück, doch wann sich David Wagner wieder voll und ganz auf die beiden verlassen kann, ist schwierig zu prognostizieren. Sicherlich dauert es noch bis ins nächste Jahr – und fehlende Leistungsträger kosten früher oder später immer ein paar Prozentpunkte im Kampf um wichtige Zähler.


Zwischen Ligaalltag und internationalen Nächten


YB konnte sich für diese Spielzeit sensationell zum zweiten Mal in der Vereinsgeschichte für die Champions League qualifizieren: Für den Klub und den gesamten Schweizer Fussball ein extrem schöner und wichtiger Erfolg. Trotz allem bietet sich für Coach Wagner dadurch auch eine gewaltige Herausforderung. Die Gelb-Schwarzen müssen den Spagat zwischen ausverkauftem «Theatre of Dreams» am Mittwochabend und einem Auswärtsspiel im Cornaredo vor vielleicht 3'000 Zuschauern schaffen. Vor allem dank des herausragenden Startsieges gegen das grosse Manchester United dürfen die Berner sogar noch von weiteren europäischen Sternstunden im Frühjahr träumen. Die Balance zwischen magischen internationalen Nächten und dem bisweilen grauen Ligaalltag ist für den Kopf nicht immer ganz einfach. Speziell die jungen Spieler könnten Gefahr laufen, bei der ganzen Vorfreude auf die Königsklasse den Fokus in den nationalen Spielen zu verlieren. Ohne hundertprozentige Konzentration kann auch eine so starke Mannschaft wie die Young Boys gut und gerne Federn lassen.


Underdogs mit Ambitionen?


Seit der Saison 2009/2010 ging der Meisterpokal stets nach Basel oder Bern – eine Statistik der völligen Dominanz der beiden Aushängeschilder des Schweizer Fussballs. Der FCZ gewann im legendären Saisonfinnish 2009 den letzten Meistertitel, der nicht an Rot-Blau oder Gelb-Schwarz ging. Auch in der aktuellen Saison sind die Zürcher sehr gut gestartet und liegen mit 20 Punkten nach zehn Spielen an der Spitze. Darf sich der FCZ tatsächlich Aussenseiterchancen auf den Titel ausrechnen? Man hat sich mit den beiden Aussenverteidigern Adriàn Guerrero und Nikola Boranijasevic hervorragend verstärkt und vorne sorgt das Duo Marchesano/Ceesay bislang für mächtig Wirbel. Das Verhältnis zwischen abgeklärten Routiniers und hochtalentierten Jungspunden stimmt und Coach Breitenreiter bringt es fertig, seine Mannschaft optimal auf jede Partie einzustellen.


Sowieso hat der Deutsche dem ganzen Klub neues Leben eingehaucht und versprüht mit seiner positiven und professionellen Art viel Enthusiasmus im gesamten Umfeld des Vereins. Der ehemalige Übungsleiter von Paderborn, Schalke und Hannover ist so etwas wie der Königstransfer von Ancillo Canepa und eine Bereicherung für die ganze Super League. Ob der FCZ weiterhin so konstant punkten kann wird sich zeigen, doch die Rahmenbedingungen, um mindestens Rang 3 anzugreifen, waren schon lange nicht mehr so gut.




Der FC Lugano steht derzeit auf Rang vier in der Tabelle und hält – noch mit einem Nachholspiel in der Hand – mehr oder weniger Anschluss an die Spitzengruppe. Dies ist überraschend, denn in diesem Sommer herrschten bei den Tessinern alles andere als optimale Voraussetzungen. Besitzerwechsel und der daraus folgende Trainerwechsel verursachten von aussen betrachtet viel Chaos, doch die Mannschaft scheint dies kaum beeinflusst zu haben. Luganos Trumpf in dieser Spielzeit ist einmal mehr das geschlossene Kollektiv mit dem das Team auf dem Feld auftritt. Dabei bleiben sich die Tessiner auch unter Mattia Croci-Torti treu und veranstalten selten ein Offensivfeuerwerk. Dafür hat der nun amerikanisch geführte Klub mit elf Gegentoren eine der besten Defensiven der Liga. Orchestriert von Routinier Reto Ziegler, ist der Abwehrverbund von Lugano nur schwer zu knacken. Im Mittelfeld ziehen Captain Sabbatini und der slowenische Nationalspieler Sandi Lovric die Fäden und vorne sorgt Abubakar vereinzelt für Spektakel.


Gerade im heimischen Stadio di Cornaredo sind die Hausherren eine Macht, kein Gegner reist gerne ins Tessin. Inwieweit Lugano an den Spitzenplätzen dranbleiben und die Grossen ärgern kann, wird spätestens auch das Nachholspiel gegen YB anfangs Dezember zeigen. Zum ganz grossen Wurf fehlt dann wohl aber doch die individuelle Klasse. Gleichwohl werden die Tessiner ein sehr unangenehm zu bespielendes Team bleiben und alles daransetzen, die wirren Schlagzeilen abseits des Rasens mit weiterhin guten Auftritten in den Hintergrund rücken zu lassen.




Das Meisterschaftsrennen dürfte auf jeden Fall so mitreissend wie schon lange nicht mehr werden und beste Werbung für den Schweizer Fussball produzieren. Eine nächste und nochmals aussagekräftigere Zwischenbilanz lässt sich sicherlich vor den Weihnachtstagen zum Abschluss der Hinrunde ziehen. Wir bleiben gespannt.

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