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Experten Diskussion: Hidden Nati Candidates
Unsere Wild Cards für eine Berufung in die Nationalmannschaft. Welche Schweizer Fussballer sollten eine Chance erhalten?
Die Schweiz verfügt über ein beachtliches Reservoir an potentiellen Nationalmannschafts-kandidaten. Vladimir Petkovic hat in seiner Amtszeit bislang aber lieber auf Kontinuität als auf Experimente gesetzt, weswegen unbekanntere Spieler und Fussballer aus kleineren Ligen kaum Chancen hatten, berufen zu werden.
In dieser Expertenrunde nennen wir unsere "Hidden Nati Candidates": Wer drängt sich in unseren Augen für eine Premiere mit der Schweizer Nationalmannschaft auf?
Disclaimer: Spieler, die in den U-Nationalmannschaften unterwegs sind, beliessen wir aussen vor. Genauso wie prominente Namen, die in naher Zukunft realistischerweise zu ihren ersten Einsätzen in der Nati kommen sollten (bspw. Sandro Lauper, Cameron Puertas oder Silvan Hefti).
Chris Eggenberger:
Saidy Janko, 25: Real Valladolid
Nationale Aufmerksamkeit bekam Saidy Janko in der Schweiz vor allem in der Saison 2019/20, als er an YB ausgeliehen war und 46 Pflichtspieleinsätze zum Doublegewinn der Berner beitrug. Der Rechtsverteidiger wollte in Bern bleiben, doch YB und sein Stammklub Porto konnten sich nicht auf einen Deal einigen.
Schon wieder ein Szenenwechsel also für Janko, der in seiner Karriere schon so einiges erlebte. Mit 18 aus der Jugend des FCZ zu Manchester United, später mit Celtic Glasgow 2-mal Schottischer Meister, dann St. Etienne und Porto – dazwischen leihweise Bolton, Barnsley und Nottingham. Als im Herbst 2020 der spanische Erstligist Real Valladolid mit Besitzer Ronaldo («der Echte!») anklopfte, war Jankos neue Heimat gefunden. Immerhin 2 Millionen Euro zahlten die Spanier für den ehemaligen U21-Nationalspieler.
Saidy Janko kam nach seinem Wechsel zuerst nur unregelmässig zum Einsatz, im Dezember verletzte er sich gar. Seit seiner Rückkehr Mitte Februar ist er aber gesetzt, machte die letzten 5 Spiele von Anfang an – dabei verlor Valladolid nur 1-mal (0-1 gegen Real Madrid) und kassierte nie mehr als 1 Gegentor.
Ausgezeichnet von seinem Offensivdrang, wäre Janko in der Nati ein idealer Backup für Kevin Mbabu, vor allem, falls Vladimir Petkovic an der 2020 getesteten Fünferkette festhält. Ricardo Rodriguez wird wohl an die EM reisen, spielt bei Torino aktuell aber kaum und wenn, dann als Innenverteidiger – so könnte Jordan Lotomba an der EM im Sommer auf die linke Seite rücken, was aufgrund der Verletzung von Silvan Widmer den Kaderplatz hinter Mbabu öffnen würde. Ein anderer möglicher Kandidat für die Position wäre Cedric Brunner von Arminia Bielefeld.
Saidy Janko - aus den Augen aus dem Sinn? Könnte man meinen. Falls Janko fit bleibt, seinen Stammplatz in LaLiga behaupten kann und sich die Kaderprobleme der Nati bei den Aussenverteidigern nicht bessern, muss er zum Kandidatenkreis für die Nati gehören.
Maximilian Wagner:
Dereck Kutesa, 23: Stade Reims
Den 23-Jährige Schweizer Legionär kann man meiner Meinung nach durchaus, gerade mit Blick in die Zukunft, als eine Alternative auf dem Flügel sehen. Schon früh hinterliess der junge Genfer seine Spuren im Nati-Trikot, so kam er in der U-15 zum ersten Mal für die Schweiz zum Einsatz. Noch bis im Herbst 2018 lief er für die U-21 Nati in den Qualifikationsspielen für die EURO auf. Insgesamt bringt es Dereck Kutesa auf 38 Junioren Nati-Partien – wenn das mal nicht optimale Voraussetzungen für eine Nomination in der A-Nati sind.
Kutesa durchlief die hervorragende Jugendakademie des Servette FC, eine der schweizweit Besten. Im Herbst 2013, damals noch in der U-17 Nati, erhielt Kutesa als einer der jüngsten Spieler der Klubgeschichte bei Servette einen Profivertrag. Zu einem Auftritt für Servette in der Super League kam es jedoch nie. Bald kam der Schritt zum FC Basel, wo er nach zwei Jahren und nur 7 Einsätzen für das FCB-Profiteam zum FC Luzern weiterverliehen wurde. Dort konnte Kutesa die Verantwortlichen des FC St. Gallen von sich überzeugen. Diese lockten den dynamischen Angreifer Sommer 2018 in die Ostschweiz. Die Saison 2018/19 mit dem FCSG avancierte zu Kutesas Durchbruchsjahr: Er schwang sich zum unangefochtenen Stammspieler auf und verzauberte das St. Galler Publikum mit seinem Tempo, seinen Dribblingskünsten und Scorerqualitäten. In wettbewerbsübergreifenden 40 Einsätze registrierte der talentierte Flügel 4 Tore und 5 Vorlagen. Keine Überwerte, aber für seine erste Spielzeit als Stammspieler aller Ehren wert.
Im Sommer 2019 wurden die Verantwortlichen von Stade Reims auf das Schweizer Flügeltalent aufmerksam. Kutesa nahm die Gelegenheit wahr und verabschiedete sich in die Ligue 1. In seiner ersten Saison kam er in 17 Partien zum Einsatz, wobei ihm immerhin 2 Treffer und 1 Assist gelangen. Reims beendete die Saison auf einem grandiosen 5. Platz – als Aufsteiger! Auch aktuell läuft es für Kutesa rund, 22 Einsätze stehen zu Buche, wenn auch meist als Joker. Die Ausbeute von 4 Scorerpunkten (1 Tor, 3 Vorlagen) lässt sich sehen. Genügend Spielpraxis für ein Aufgebot mit der A-Nati in naher Zukunft hat er bestimmt in den Knochen. Einer seiner Konkurrenten auf dem Flügel – namentlich Steven Zuber– spielte in dieser Saison weniger als Kutesa. Daneben ist Renato Steffen zur Unzeit verletzt, während Admir Mehmedi gerade erst wieder fit geworden ist. Kutesa ist überdies um einiges jünger, frischer und dynamischer als die drei arrivierten Nati-Kräfte. Wieso also nicht einem talentierten Spieler mit viel Potential, den man in der Schweiz schon bestens kennt, in den nächsten Nati-Partien eine Chance geben?
Emanuel Staub:
Michael Frey, 26: Waasland-Beveren
Tatsächlich stand Michi Frey 2014, damals noch im Trikot von LOSC Lille, bereits einmal im Nati-Aufgebot, zu einem Einsatz reichte es aber nicht. Nun, 2021, könnte seine Chance vielleicht endlich gekommen sein.
Frey spielt sich in Belgien zurzeit stark in den Fokus. Vom türkischen Topklub Fenerbahce nach Waasland-Beveren verliehen, blüht der wuchtige Mittelstürmer wieder auf.
In 25 Spielen kommt der gebürtige Berner für seinen Leihklub auf starke 10 Tore und 3 Vorlagen – eine tolle Quote. Von allen Schweizer Nati-Stürmern, die aktuell im Ausland engagiert sind, haben nur Haris Seferovic (17 Tore, Benfica) und Mario Gavranovic (14 Tore, Dinamo Zagreb) öfters getroffen. Mit dem Unterschied, dass beide bei nationalen Spitzenklubs engagiert sind und daher öfters zu tollen Tormöglichkeiten kommen und auf weniger starken Widerstand in der Defensive des Gegners stossen.
Waasland-Beveren hingegen steckt in Belgiens Pro League im Tabellenkeller, aktuell ist man sogar Schlusslicht. Bei einem Klub in so einer Lage 10 Tore zu erzielen, muss man erstmal schaffen. Michi Frey ist an 41% aller Liga-Treffer von Waasland-Beveren direkt beteiligt, er ist das zentrale Element des Angriffs und hält die Hoffnung auf den Klassenerhalt am Leben.

Welche weiteren Argumente sprechen für eine Berufung der Sturmkante? Immerhin ist man ja mit Seferovic, Gavranovic, Embolo, Itten, Ajeti, Drmic und perspektivisch Andi Zeqiri auf der Mittelstürmerposition quantitativ gut aufgestellt. Nun, Michi Frey bringt Elemente ins Spiel, die dem gesamten Gefüge der Schweizer Nationalmannschaft guttun könnten. Er bringt mit einer Körpergrösse von 1,90m in erster Linie eine extreme physische Wucht auf den Rasen, die er durch Kopfballstärke, Ballabschirmung und Durchsetzungskraft exzellent ausspielen kann. Daneben ist Frey ein unheimlich aggressiver Spieler, verbissen und gnadenlos wirft er sich in Zweikämpfe und tankt sich durch die Abwehrreihen. Seine Aggressivität macht ihn zu einem äusserst unangenehmen Gegenspieler, der die gegnerische Abwehr während 90 Minuten durchgehend beschäftigt und aufreibt. Der Nati wurde in den letzten Jahren immer wieder die Mentalitätsfrage gestellt – ein Spieler wie Frey auf dem Platz zu haben, könnte die gesamte Dynamik der Mannschaft verändern, besonders als Joker in heissen Phasen des Spiels.
Für Michi Frey ist die Nati eine Herzensangelegenheit. Oft schon formulierte er offensiv den Anspruch, in der Nati einen Platz zu bekommen. Er würde sich für das rotweisse Trikot zerreissen und auf dem Feld bluten. Vladimir Petkovic sollte ernsthaft darüber nachdenken, ihm eine Chance zu erteilen, sei es auch nur für einen Zusammenzug. Es verlangt niemand, dass Frey mit an die EURO reist oder gar Stammspieler wird – aber er scort momentan verlässlicher als viele andere und könnte der Nati mit seinen Fighter-Qualitäten jederzeit weiterhelfen.
Livio Dörig:
Cédric Brunner, 27: Arminia Bielefeld
Meine Wahl für einen Spieler, der eigentlich eine Berufung in das Team von Vladimir Petkovic verdient hätte, fällt auf Cédric Brunner. Der mittlerweile 27-Jährige machte insgesamt vier Partien für die Schweizer U16- und U17-Auswahl, wurde danach aber nie mehr für eine Nationalmannschaft berücksichtigt. Ich finde – vor allem zum jetzigen Zeitpunkt – zu Unrecht, denn Brunner ist bei Bundesliga-Aufsteiger Arminia Bielefeld absolute Stammkraft und Mr. Zuverlässig höchstpersönlich. Nach seinem Wechsel vom FCZ in Liga 2 im Sommer 2018 verwunderte es nicht, dass er für die Ostwestfalen sofort zu einem wichtigen Akteur wurde. Die 2. Bundesliga und die Super League bewegen sich schliesslich auf einem ähnlichen Niveau. Vielmehr erstaunt es, dass dem gebürtigen Zollikoner der Schritt in Deutschlands höchste Spielklasse in dieser Spielzeit scheinbar keine Mühe bereitet. Gegenwärtig misst sich der rechte Aussenverteidiger nämlich mit Kingsley Coman, Moussa Diaby und noch vielen weiteren hochkarätigen Flügelspielern und bietet diesen bravourös Paroli.
Dabei besticht Brunner vor allem durch ein starkes Zweikampfverhalten, zuverlässiges Passspiel und eine ungemeine Lauf- und Einsatzbereitschaft. Mit 238,6 absolvierten Kilometern hat Brunner in dieser Saison von allen Bielefeldern die grösste Distanz abgespult. Bei einem Aufsteiger wie der Arminia sind von einen Aussenverteidiger in erster Linie defensive Stabilität und ein Kämpferherz gefragt, offensive Ausflüge oder technische Spektakeleinlagen sind weniger gefordert. Demzufolge liegen die Stärken Brunners eher in der Rückwärtsbewegung. Allgemein findet er jedoch eine sehr gute Balance zwischen Offensive und Defensive. Mit seinen grundsoliden Auftritten in der Bundesliga und der Erfahrung von 104 Spielen für den FC Zürich, stellt Brunner meiner Meinung nach eine valable Alternative zu Kevin Mbabu oder Silvan Widmer in der Nationalmannschaft dar. Besonders Mbabu wirkt in der Abwehrarbeit nicht immer ganz sattelfest und gerade gegen grosse Fussballnationen mit schnellen und präzisen Ballzirkulationen, wäre Brunner mit seiner blitzsauberen und verlässlichen Spielart die passendere Wahl. Kann Cédric Brunner zukünftig seine Form beibehalten, und sollte er sogar mit dem einen oder anderen Scorerpunkt ein Ausrufezeichen setzen (bislang nur eine Torvorlage in dieser Spielzeit), dürfte er sich endgültig aus seinem Schattendasein lösen. Verdient wäre eine Nomination meines Erachtens nach definitiv – und zu wünschen wäre es dem zweimaligen Schweizer Cupsieger allemal.
Giacomo Notari: Eco dello Sport / Proxifoot
Antonio Marchesano, 30: FC Zürich
Einer der Spieler, die ich sehr gerne zumindest einmal für die Nati auflaufen sehen würde, ist definitiv Antonio Marchesano. Es gibt mehrere Gründe, die mich zu dieser Wahl brachten.
Zu allererst sollte man auf seine Zahlen blicken: Zu diesem Zeitpunkt der Saison hat der FCZ die viertbeste Offensive der Liga hinter YB, Luzern und Basel. Und wer ist die grösste offensive Waffe der Zürcher? Assan Ceesay? Blaz Kramer? Marco Schönbächler? Benjamin Kololli? Nein, der Anführer des viertbesten Angriffs der Super League ist niemand anderes als Antonio Marchesano – und das als offensive Mittelfeldspieler!
Mit 9 Toren und 5 Vorlagen ist der Tessiner an 39% aller FCZ-Treffer direkt beteiligt. In dieser Statistik sind auch 4 Elfmeter beinhaltet, aber diese muss man zuerst einmal verwandeln. Daneben gibt es in der Super League nur einen Mittelfeldspieler, der auf vergleichbare Zahlen kommt: Louis Schaub. Das alleine zeigt auf, wie gross der Einfluss und die Bedeutung Antonio Marchesanos sind.
Warum sollte er Teil der Nati werden? Für mich ist die Antwort klar: Marchesano ist 30 Jahre alt und erlebt zurzeit gerade den Peak seiner Karriere. Was er uns in dieser Saison auf dem Rasen zeigt, ist schlicht spektakulär, der weltklasse Assists am vergangenen Wochenende gegen Lausanne illustriert dies eindrücklich. Ein schneller, kleiner und technisch hochbegabter Mittelfeldspieler, der direkt hinter den Spitzen eingesetzt wird: Ein Spielertyp, den jeder Fussballfan liebt. Zudem, wer sonst in der Nati bringt ein solches Profil mit? Ziemlich sicher niemand. Ich glaube wirklich, dass eine Berufung von Antonio Marchesano dem ganzen Team mehr Spektakelflair, technische Qualität und Erfahrung verleihen könnte.
Wir wissen, wie schwer es für Spieler aus dem Tessin ist, sich einen Platz in auf der Nati-Liste zu erobern. Es ist Jahre her, seit ein waschechter Ticinesi Einsatzzeiten in der A-Nati gesammelt hat. Einen Spieler wie Marchesano zu nominieren, würde eine Nachricht an die nächste Generation von jungen Fussballern auf der anderen Seite der Alpen senden: Es gibt auch für euch die Möglichkeit, durch harte Arbeit und viel Hingebung den Sprung in die Nati zu schaffen.

Um zum Abschluss zu kommen: Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass Marchesano kein Nati-Stammspieler mehr wird. Als 30-Jähriger eine Berufung zu erlangen, dürfte schon schwer genug sein. Nichtsdestotrotz wäre ich für Antonio Marchesano extrem glücklich, wenn er in naher Zukunft tatsächlich eine Chance von Petkovic erhalten sollte, auch wenn es nur ein paar Minuten in der Nachspielzeit wären.
Seine aktuelle Form, sein ungewöhnliches und überaus interessantes Profil und die Bedeutung, die seine Nomination für den ganzen Kanton Tessin hätte, sind aus meiner Sicht ausreichende Gründe, ihm eine Chance zu geben.