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  • Livio Dörig

Die wundersame Auferstehung von Nicolas Lüchinger

Die Verletzungshistorie von Nicolas Lüchinger ist trotz seiner erst 26 Jahre exorbitant lang. Immer wieder warfen ihn schwere gesundheitliche Probleme zurück und manch einer hatte den Verteidiger bereits komplett abgeschrieben. Doch spätestens seit Beginn dieser Saison ist Lüchinger wieder ein Schlüsselspieler im Kollektiv des FC St. Gallen. Bolzplazz beleuchtet die wundersame Auferstehung des FCSG-Rechtsverteidigers.


Zehn Pflichtspiele, gut 800 Spielminuten, zwei Tore und vier Vorlagen: Lüchingers bisherige Bilanz in der laufenden Spielzeit liest sich für einen Defensivmann herausragend. Lediglich das Auswärtsspiel im Tessin gegen den FC Lugano verpasste er aufgrund einer leichten Blessur. Da Anführer Lukas Görtler in der Partie gegen YB im Berner Wankdorf gelbgesperrt fehlte, durfte Lüchinger die Espen Ende September gar als Captain aufs Spielfeld führen –ein riesiges Highlight für den gebürtigen Rheintaler mit Wurzeln in Guadeloupe. Eine bemerkenswerte Erfolgsstory nach einer rund zweijährigen Leidenszeit, in der seine Karriere an einem seidenen Faden hing.


Der Beginn einer Leidensgeschichte


Die Pechsträhne nahm in der Saison 2017/18 ihren Anfang. Auch davor hatte Lüchinger die Verletzungshexe einige Male heimgesucht, jedoch stets mit kleineren Wehwehchen. Im Februar 2018 muss er sich wegen Patellasehnen-Problemen im linken Knie operieren lassen und fiel dadurch für die komplette restliche Rückrunde aus. Für ihn besonders bitter, da er nach seinem Wechsel von Sion in die Ostschweiz von Anfang an als Stammspieler gesetzt war. In der darauffolgenden Sommervorbereitung kämpfte sich der Rechtsverteidiger zurück und gab Vollgas. Zu Beginn der Saison 2018/2019 sah für ihn zunächst alles rosig aus, doch am siebten Spieltag zog sich Lüchinger gegen Lugano in einem unglücklichen Zweikampf einen Bruch des Schlüsselbeins zu.


Die Folge des erneuten Dämpfers: Wieder rund zwei Monate Ausfallzeit und einige verpasste Spiele. Mit der Hoffnung, die Saison verletzungsfrei zu Ende zu spielen, ereilt Lüchinger im Mai 2019 der nächste Verletzungsschock. Dieses Mal jedoch mit einer weitaus schlimmeren Tragweite, denn der Rechtsfuss erlitt einen komplizierten und schmerzhaften Knorpelschaden im rechten Knie. Weil bei solch einer Verletzung bei Profisportlern stets ein Eingriff notwendig ist, musste sich auch Lüchinger wieder unters Messer legen. Zum Glück sind solche Operationen mittlerweile minimalinvasiv, sprich mittels Arthroskopie möglich. Dann aber der nächste Tiefschlag: Der Heilungsprozess schritt nicht wie gewünscht voran, viel schlimmer noch: Es kam gar zu einer gefährlichen Infektion im operierten Gelenk. Unglaubliches Pech für Lüchinger und ein weiterer schwerer gesundheitlicher Schaden, denn danach waren weitere Eingriffe und Behandlungen an der Problemstelle unumgänglich.


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Die Hoffnung stirbt zuletzt


Nach sage und schreibe 18 Monaten Ausfallzeit und 38 verpassten Pflichtspielen, konnte Lüchinger im Juli vergangenen Jahres endlich mit der Mannschaft trainieren. Er war soweit wieder bei Kräften, dass er im Sommervorbereitungstestspiel gegen den österreichischen Zweitligavertreter Austria Lustenau zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit auf dem Platz stehen konnte. Bessere Zeiten waren für den robusten Aussenverteidiger endlich wieder in Aussicht, nach dem geräuschvollen Abgang von Abwehrchef und Captain Silvan Hefti winkte Lüchinger gar ein Stammplatz. Kurz vor dem offiziellen und langersehnten Comeback, ereilte ihn aber bereits die nächste Hiobsbotschaft. Diesmal machte nicht das rechte Knie Sorgen, sondern das linke: Auch dort lag ein Knorpelschaden vor.


Kurz vor seinem Comeback musste sich Lüchinger also abermals von einem Nackenschlag erholen und sich auf einem steinigen Weg der Genesung zurückkämpfen. Im St. Galler Umfeld gab es zu diesem Zeitpunkt nur noch wenige, die dem Rheintaler eine Zukunft auf der rechten Aussenbahn voraussagten. Viele dürften den Namen Lüchinger nach seiner langen Pechsträhne vom Zettel gestrichen haben. Doch von Resignation war beim Heisssporn keine Spur, auch dieses Mal quälte er sich erfolgreich durch die Reha und das Aufbautraining.


Endlich Licht am Ende des Tunnels


Gegen Ende 2020 hat Lüchinger den Knorpelschaden im linken Kniegelenk soweit auskuriert. Obwohl er wieder voll belastbar war und die Trainings in einer normalen Intensität bestreiten konnte, warf ihn Trainer Peter Zeidler, unter welchem er übrigens bereits in Sion gespielt hatte, nicht direkt ins kalte Super League-Wasser. Verständlich, denn insgesamt haben die beiden schweren Knieverletzungen den gebürtigen Oberrieter knapp 600 Tage ausser Gefecht gesetzt. Mitte März diesen Jahres war es im Heimspiel gegen den Serienmeister aus Bern schliesslich so weit: Der bissige Aussenverteidiger feierte nach langer Leidenszeit ein siebenminütiges Comeback und wurde mit liebevollen "Lüchi"-Sprechchören bedacht.


Dieser Teileinsatz gegen YB war nicht nur ein Gänsehautmoment für Lüchinger, sondern markierte quasi einen Neustart in seine "zweite Karriere". Denn seit seiner Rückkehr kann der Verteidiger aus sportlicher Sicht endlich wieder positive Schlagzeilen generieren. Zum Ende der Saison 2020/21 kam er noch zu einer Handvoll Startelfauftritten und deutete bereits da seine unbestrittenen Qualitäten an. Spätestens seit Beginn der laufenden Spielzeit ist Lüchinger wieder ein Eckpfeiler der St. Galler Mannschaft. Den Espen läuft es mit gerade einmal sechs Punkten aus neun Meisterschaftspartien nicht sonderlich rund, doch der Rheintaler ist bislang einer der wenigen Lichtblicke.


"Lüchi", der Publikumsliebling


Lüchinger ist auf der rechten Aussenbahn stets ein Aktivposten. Defensiv äusserst solide und mit viel Drive nach vorne ausgestattet, sorgt er für viel Betrieb auf der rechten Aussenbahn. Lüchinger mag kein Edeltechniker sein, besitzt aber eine aussergewöhnliche Mentalität und grossen Teamgeist. Daneben weiss Lüchinger auch mit starken Bewegungsabläufen bei Flanken und Grätschen, sowie mit ordentlichem Tempo zu überzeugen. Die rechte Seite des FCSG ist mit dem Duo Görtler/Lüchinger in puncto Einsatzwille, Kampfgeist und Aggressivität ligaweit kaum zu übertreffen.


Vor allem in der Vergangenheit war der Rheintaler als extremer Heisssporn aufgefallen. Polemische Aktionen oder unnötige Fouls haben heute aber abgenommen, der Rechtsverteidiger ist reifer und spielintelligenter geworden. Von seiner Emotionalität hat Lüchinger aber kein bisschen eingebüsst. Dies untermauern die drei gelben Karten, die er in dieser Saison bereits gesammelt hat. Zu den weiteren grossen Stärken von «Lüchi» zählen Leader-Fähigkeiten und eine gewisse Giftigkeit in Duellen. Ausserdem vermag kaum ein Spieler das Publikum so sehr mitzureissen wie Lüchinger. Gerade in der aktuellen Situation kann der FCSG solche Qualitäten sehr gut gebrauchen.




Im Nu ist der 26-Jährige in dieser Saison zum Liebling der Fans aufgestiegen: Nicht nur ist er ursprünglich ein Eigengewächs der Espen und kommt aus der Region, auch seine aufopferungsvolle Spielweise kommt beim St. Galler Anhang sehr gut an. Dazu ist Lüchinger ebenfalls für den neutralen Beobachter eine spannende Personalie, denn seine Interviews mit Medienvertretern sind im Vergleich zu den vielfach einsilbigen Antworten seiner Berufskollegen sehr erfrischend und unterhaltsam. Der Aggressivleader nimmt kein Blatt vor den Mund und verstellt sich nicht, den markanten Rheintaler Dialekt stellt er mit breiter Brust zur Schau. Bei Lüchinger reden die grün-weissen Fans also völlig zurecht von "einem von uns".


In einem Interview hat er preisgegeben, dass er es sich nach seiner aktiven Karriere durchaus vorstellen könnte, als Coach im Nachwuchsbereich tätig zu sein. Gut möglich also, dass Lüchinger seinem Herzensverein auch über die Profilaufbahn hinaus erhalten bleibt. Bis dahin steht er aber hoffentlich unversehrt auf dem Platz, denn mit nunmehr fast 27 Jahren befindet er sich in der Blütezeit. Trotz Verletzungssorgen hatten die Verantwortlichen des FC St. Gallen immer viel Vertrauen in ihr Mentalitätsmonster und statteten ihn gar mit einem Vertrag bis im Sommer 2025 aus. Gute Voraussetzungen also, dass Lüchinger nun nach der Neulancierung seiner Karriere so richtig durchstarten kann.


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